Wie alles anfing…
Alles begann in einem sibirischen Winter in dem kleinen Dorf Istok unweit der Stadt Irkutsk am Baikalsee. Genauer gesagt war es der Winter, beinahe schon das Frühjahr 2004. Nach einer sehr langen und sehr kalten Zeit erhob sich das Braun-Grau des Vorjahres unter der Schnee- und Eisdecke und tiefblaue, reißende Schmelzbäche gurgelten zu den großen Flüssen, die man nun schon nicht mehr befahren, nicht mehr betreten konnte.
Die Birken sind jedes Jahr wieder die ersten Pflanzen, die mit einem jungen, sehr hellen Grün eine Botschaft in die Welt tragen: Der Winter ist vorüber!
Tim Mergelsberg leistete zu dieser Zeit seinen Zivildienst im kleinen fortschrittlichen Behindertenprojekt Istok. Istok bedeutet „die Quelle“. Es ist Lebensquell für rund 15 geistig behinderte Menschen. Vor kurzer Zeit hatte er Joachim Heinz kennengelernt, der in Irkutsk eine Unternehmensberatungsfirma führte, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt.
Joachim kam mit einer Idee auf Istok und Tim zu und wollte wissen, ob Istok in der Lage sei, Birkendosen zu produzieren. Alle sollten gewinnen: Joachim, der die Dosen benötigte, das Behindertenprojekt Istok, das dringend Geld brauchte und die Kunden in Europa, die diese wunderschönen Gefäße kaufen können. Sofort war Tim begeistert und baute mit seinem Freund Jakob Steigerwald eine Werkstatt, speziell für die von Joachim gewünschten Dosen und den Anforderungen der Behindertenwerkstatt angepasst, auf.
Seitdem ist Istok Kernproduktionsstätte von sagaan, wenngleich das Dorfprojekt nicht die Kapazitäten hat, alle Dosen für sagaan herzustellen. Immerhin mausert sich die Werkstatt gerade zu einer größeren Produktion und will von nun an alle Größen der Serie Baikal produzieren.
Der Produzentenkreis weitet sich aus
Wir zogen los, um weitere Produzenten zu suchen. Neben dem Irkutsker Gebiet rund um den Baikalsee sind die umliegenden Gemeinden von Tomsk, nördlich der Metropole Nowosibirsk wichtigste Region in der Birkenrindenverarbeitung.
Hier stießen wir auf Aleksej Michajlowitsch, einem ausgewiesenen Kenner von Birkenrinde. Lange Jahre war er unser erster Mann in Sachen Versand/Export, Aufbau von Produzentenkontakten, Türöffner und Einfädelungen aller Art.: Zuverlässig und gewissenhaft erfüllte er uns alle Wünsche, kannte dabei nicht nur die Birkenrinde, ihre Qualitäten und Eigenschaften wie kaum ein anderer, sondern auch beinahe das ganze Städtchen Asino, das so etwas wie unser zweites Standbein wurde. Nach den Wirren der 1990er-Jahre in Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion hat sich in Asino das Birkenrinden-Handwerk als Hauptwirtschaftszweig entwickelt. In der gesamten Region, in den Dörfern sowie in dem Städtchen selbst gibt es kaum eine Familie, die nicht mit der alten Birkenrinden-Tradition verwoben ist.
Über Aleksej, der mittlerweile aus gesundheitlichen Gründen leider seine Tätigkeiten niederlegen mußte, lernten wir schließlich auch Sergej Iwanowitsch kennen, einen der vielen Produzenten in Asino, die einige Mitarbeiter um sich scharen und in einer kleinen Manufaktur Gefäße und andere Kunstwerke aus Birkenrinde fertigen.
Es ist nicht immer einfach, Produzenten zu finden. Viele schrecken vor den Qualitätsansprüchen, die wir stellen, zurück, wollen sich nicht mit Zollpapieren herumschlagen oder mögen die schlichten Dosen, die wir bestellen, nicht: Sie verstehen sich als Künstler und wollen aufwendige Verzierungen und reiche Bilder in die Rinde einprägen.
Sergej aber begeisterte sich schnell für unsere Dosen, baute uns kurzerhand ein ganzes Paket voller Muster und besticht in seiner Arbeit mit einer Qualität, die seinesgleichen sucht. Dazu sind alle seine Dosen, die er seit 2013 für uns serienmäßig produziert, leimfrei.
sagaan hat sich hohe Ziele gesteckt: Bestehende Projekte und kleine Handwerksbetriebe sollen langfristige Abnahmegarantien bekommen, was ihnen Sicherheit und Stabilität ermöglicht. Viele Menschen in Russland, besonders in der Provinz, sehnen sich nach dieser Stetigkeit, inbesondere nach den Erschütterungen der 1990er-Jahre, die den meisten Menschen mehr als einmal jegliche Lebensgrundlage entzogen haben.
Meilensteine und Herausforderungen
Die Zusammenarbeit mit kleinen Betrieben zieht aber auch die Schwierigkeit mit sich, dass ein sehr hoher Aufwand betrieben werden muss, um alle Anforderungen zu bedienen. Wir müssen dabei abwägen zwischen den uns gesetzten Ansprüchen und den gegebenen Möglichkeiten der Produzenten. Nicht immer können wir alle Anliegen gleichwertig berücksichtigen; zuweilen enden oder pausieren Kooperationen früher, als wir uns das gewünscht haben. Andere Produzenten erfahren eine so große regionale Nachfrage – was wir grundsätzlich begrüßen – daß keine Produktionskapazitäten mehr für uns zur Verfügung stehen. So beziehen wir beispielsweise derzeit keine Produkte von unserem in diesem Blogbeitrag beschriebenen Partner, hegen aber weiterhin freundschaftlichen Kontakt zu ihm, der nach wie vor auch die Behindertenwerkstatt Istok unterstützt.
Für diesen Wandel sind wir offen. Aus organisatorischen- und Kostengründen schauen wir uns daher derzeit nach möglichen Produzenten in Europa um. Damit würden wir ein weiteres Ziel erfüllen: Ein altes Kunsthandwerk mit einem wertvollen Material nicht nur zu erhalten, sondern es in Regionen, wo dieses längst ausgestorben ist, mit dem alten Wissen unserer russischen Freunde wiederzubeleben.